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Hochparterre 1-2/2011

Neu geworden, alt geblieben
Die 100 Jahre alte Lokremise in St.Gallen zeigt differenziert, wie ein in die Jahre gekommenes Haus erneuert und neu bespielt werden und trotzdem in weiten Teilen alt bleiben kann.

Einem Bauwerk sein Alter mitsamt seinen Unschönheiten und Dellen zu lassen, ohne es dem Zerfall preiszugeben, ist nicht einfach. Renovierte Häuser sehen in der Schweiz aus wie neu – oft ist jedes Bauteil perfekter als es am Tag seiner Herstellung war. Es scheint schwierig, dem schweizerischen Streben nach Perfektion und Genauigkeit entspannt entgegen zu treten, und wenn die notwendigen Mittel (wie so oft) vorhanden sind, kann und muss häufig jede Oberfläche (auch energetisch) erneuert und jedes Element rekonstruiert werden. Der Umbau der Lokremise in St. Gallen zeigt eine differenzierte Art, im Umgang mit dem Alter.

Das grösste Ringdepot der Schweiz (erbaut 1903 bis 1911) war seit Ende achtziger Jahre ungenutzt, als es die Galerie Hauser & Wirth 1999 zur Ausstellung der hauseigenen Sammlung nutzte und damit das Gebäude wieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte und in Erinnerung rief. Weil der Bau in seinem damaligen Zustand für die Galerie nur im Sommer nutzbar war, zog Hauser & Wirth trotz erfolgreichen Ausstellungen 2004 wieder aus. Dank grossem Einsatz des kantonalen Amtes für Kultur wurde 2005 trotz eines fortgeschrittenen Projektes der SBB für eine Sanierung mit Event- und Kommerznutzungen ein Architekturwettbewerb für ein spartenübergreifendes Kulturzentrum ausgeschrieben, den das Zürcher Architekturbüro Stürm und Wolf für sich entscheiden konnte. Schon im Wettbewerb hatten sich die Architekten entschieden, die verwitterte Schönheit des Hauses nicht rundum zu erneuern, sondern gezielte Verbesserungen und verträgliche Anpassungen zu suchen. Auch weil es in dem etwas rohen und schäbigen Zustand sehr gut als «Offspace» funktioniert hatte und die Architekten an der Erhaltung dieser Stimmung interessiert waren. Reanimation und Transformation nennen sie die beiden zentralen Begriffe ihres Entwurfs.

Mit Reanimation meinen Isa Stürm und Urs Wolf den Prozess, die alte Substanz wo nötig besser sichtbar zu machen und zudem in einen belastbaren Zustand zu überführen. In diesem Sinne haben sie zusammen mit dem Winterthurer Bauphysiker Christoph Keller die Massnahmen zur Verminderung der Wärmeverluste erarbeitet. Die Fassade der Lokremise besteht zu grossen Teilen aus Öffnungen, so dass nur diese gedämmt wurden. Da aber die alten Fenster mit ihren feinen Stahlprofilen die Stimmung entscheidend bestimmten, wurden sie, wo immer möglich, mitsamt den verschiedenen im Laufe der Zeit eingesetzten kleinen Glasformaten erhalten. Ein rahmenloses, innen aufgesetztes Fenster, das sich zum Putzen nach oben klappen lässt, isoliert nun die Fassade, dichtet die Aussenhülle aber auch nicht derart ab, dass das alte Mauerwerk feucht werden könnte. Ebenso beliessen sie die gläsernen Dachreiter und verbesserten mit einer von innen her montierten horizontalen Glasscheibe die Dämmwerte. Der geschlossene Teil des Flachdachs wurde vollflächig gedämmt. Eine Perimeterdämmung aus Schaumglasschüttung bis Frosttiefe vermindert den Wärmeverlust des nicht unterkellerten Bodens und macht das Erdreich zum Wärmespeicher.

Im Inneren unterteilen die Architekten den sichelförmigen Raum mit drei Einbauten in vier Zonen. Es entstehen ein Ausstellungs- und Performaceraum fürs Kunstmuseum, ein Restaurant sowie zwei Tanz- und Theaterräume für das Theater St. Gallen. Die drei Einbauten beinhalten einen Kinosaal sowie die notwendigen Infrastrukturräume. Die immensen Räume sind unterschiedlich hell, was einen dramaturgischen Ablauf suggeriert. Die Wände und Decken der Tanztheaterzone etwa am zum Geleisefeld gelegenen Ende sind noch immer vom Russ der Dampfloks geschwärzt. Einerseits wollten die Theaterleute dunkle Räume, in denen sie das Licht kontrollieren können, andererseits gefielen ihnen die Gebrauchsspuren. Hier bleiben die Oberflächen unbehandelt. In der mittleren allgemeinen Zone mit Eingang, Kinozugang und Restaurant waren die Oberflächen von der früheren Nutzung als Ausstellungsraum rundum weiss gestrichen. Die Farbe wurde von den Verputz- und Betonoberflächen mit gemahlenen Nussschalen sanft abgestrahlt, sodass eine taktile, mehrschichtige Struktur der Oberfläche entstand, die Gebrauchsspuren enthält und doch die elegante Struktur freilegt. In der Kunstzone ist alles noch immer weiss gestrichen, denn auch das Kunstmuseum sah das Weiss als adäquaten Hintergrund für ihre Ausstellungen an. Das Nebeneinanderstehen von gänzlich belassenen zu geflickten und veränderten Bauteilen ist anregend. Die Böden mit den eingelassenen Schienen wurden in der Kunstzone sowie im allgemeinen Bereich wieder hervorgeholt und geflickt, in der Tanztheaterzone aber durch einen Holzboden ersetzt.

Den einzigen Eingriff an der Gebäudestruktur nennen Stürm und Wolf «die Sichel» Es ist ein gläserner Vorbau zum runden Hof hin. Die Sichel öffnet das Bauwerk zur Bahn und Stadt. Ursprünglich waren die Öffnungen zur Mitte hin durch Tore abgeschlossen, die die Architekten jeweils innen mit einem zweiten, verglasten Tor isoliert und befenstert haben. Auch der sichelförmige Vorbau besteht aus Toren, aus riesigen verglasten Drehflügeln, die alle geöffnet werden können. Durch den flacheren Radius der Innenfassade werden die verschiedenen Zonen des Lokdepots in Beziehung gesetzt. Die Sichel kann als Foyer oder Durchgang aber auch Zugang genutzt werden. Die eigentliche Mitte der Anlage ist die frühere Lokdrehscheibe. Von Hauser & Wirth mit einer Holzplattform abgedeckt, hat sich dieser Ort als Treffpunkt, Bühne, Projektionsraum und Tribüne etabliert. Die alte Drehscheibe liegt darunter; sie wäre sehr teuer zu sanieren und schwierig zu nutzen. Der an der äusseren Fassade liegende Haupteingang nützt einen Versprung der Aussenradien. Im Grundriss ist das ein spannender Moment, leider wirkt der Eingang aber falsch platziert, weil er räumlich vor allem auf die Kunstzone ausgerichtet ist.

Die drei Einbauten bezeichnen Isa Stürm und Urs Wolf als «Units». «Satellitenunits» nenne sie das nebenan stehende Badhaus und den Wasserturm von Robert Maillart. Im Badhaus befinden sich Büros der drei Institutionen sowie eine Wohnung für Artists in Residence, im Wasserturm derzeit eine Installation des Künstlers Christoph Büchel. Die Units beinhalten Nebenräume und Infrastruktur, ermöglichen also überhaupt erst die Transformation des Gebäudes zum Kulturort. Vor allem generieren sie aber neue Räume, schneiden Stücke aus dem riesigen Kuchen des Lokdepots. Die in der Form recht unterschiedlichen Einheiten schliessen nicht an die Fassaden an, ebensowenig liegen sie auf den Radialen des Gebäudes. Die freie Stellung verschiebt die Achsen der Zwischenräume so, dass sie nicht einfach auf den Mittelpunkt der ehemaligen Lokdrehscheibe gerichtet sind, sondern unterschiedlich aufeinander Bezug nehmen.

Die Units sind sehr verschieden gestaltet. Die Architekten sagen dazu: Programm ist Projekt! Und dieses Programm haben sie während fünf Jahren unter starkem Einbezug der Nutzer erarbeitet. Beispielsweise im Kino erinnert einzig noch eine seitlich placierte, abgestrahlte Betonstütze an die frühere Nutzung, ansonsten ist der Innenraum viel weniger roh, als in den anderen Units. Die Tanztheater-Unit wiederum ist vollständig auf Stützen gelagert, sodass darunter Raum für ein Foyer zwischen den beiden Aufführungssälen entsteht. Die zum grossen Teil schrägen Stützen – laut Architekten ein tänzerisches Moment – gewähren die Aussteifung des Einbaus auf Stützen ohne zusätzliche Wände. Bei den Garderoben für die Theater-Unit entsprachen die Architekten dem Wunsch der Nutzern nach etwas Wärme und Farbe, indem sie aussen um die Türen gelbe Felder auf die rohen Gipsständerwände malen liessen. Je weiter man in die Garderoben dringt, desto vollflächiger und intensiver werden die Farben, in der Männergarderobe dominiert ein von Moschus abgeleitetes dunkles Rotbraun, bei den Frauen ein von kräftigem Lippenstift inspiriertes Rot. Die Gastro-Unit mit der Küche, Technik und Toilettenanlagen ist innen eher grün-blau gehalten und mittig durch eine Treppe geteilt. Die WC-Anlage ist ein witziges ein Zitat der berühmten, ebenfalls bewusst rohen Anlage von Alison und Peter Smithsons Toiletten der Schule in Huntstanton von 1954.

Die Einbauten sind aus Stahl-Normprofilen konstruiert, einseitig mit Gipsplatten verkleidet und teilweise recht expressiv als Gerüste in den Bau gestellt. Diese Zugriff auf eine neue «Industriearchitektur» irritiert, denn die Lokremise ist zwar industrielle Architektur, aber eben auch ein Werk des Jugendstils. Die Verwendung von rohen Stahlprofilen, Trapezblech oder Stegplatten wirkt wie eine Anleihe aus den Sechzigern. Muss diese Architektur noch einmal «industrialisiert» werden, ist sie zu wenig roh? Muss diese imposante Halle, gebaut als Depot für tonnenschwere Stahlkolosse, zusätzlich getrimmt werden auf unser heutiges Bild davon, wie ein solcher Bau zu wirken habe? Stürm und Wolf haben diesen Ausdruck gewählt, weil in ihren Augen diese rohe Architektur die Nutzer auch zu einer schnellen Aneignung des Neuen inspiriere, als offenes Gerüst sozusagen. Widersprüchlich ist aber der, bei den Einbauten bis ins Detail spürbare Gestaltungswillen, der einen zur Frage führt, wie offen der Eingriff gegenüber der weiteren Verwendung dieses «Werkzeugs» ist. Es ist zwar teilweise etwas verwirrend und auch unscharf, aber die Rohheit der neuen Einbauten und die Rauheit des Gebrauchten, teilweise auch Verbrauchten nähern sich an den gelungenen Stellen tatsächlich einander an.

St. Gallen hat mit der Lokremise eine bedeutende Plattform für Kunst und Kultur in einem bedeutenden, jetzt wieder nutzbaren Baudenkmal bekommen. Die Behandlung des Denkmals und der Räume durch die Architekten könnte man als eine Art bauliche «Gentrifizierung» des ehemaligen Off-Space bezeichnen. Sie lässt einen mit gemischten Gefühlen zurück. Die Erhaltung der Atmosphäre eines offenen Raumes, wo alles möglich ist, ist zwar gelungen, nur sind die Institutionen, welche diese Plattform nun neu nutzen dürfen, alle gar nicht mehr «off», sondern etabliert.

 

Text © Barbara Wiskemann

 

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