Werk, Bauen + Wohnen 10/2006
Der Städtebau in der Ecke
Wohnbau an der Hohlstrasse in Zürich von Peter Märkli und Gody Kühnis, Zürich und Trübbach.
Scheinbar pragmatisch aus der Konstruktion heraus entwickelt, setzt Peter Märkli’s Wohnbau an der Hohlstrasse in Zürich ein Zeichen: Nicht an der Front, sondern an der Ecke entwickelt das Haus seine Ausstrahlung.
Die Ecke als tragender Gebäudeteil war in der Architekturgeschichte schon oft Objekt von Diskussionen und Disputen, und auch an diesem Bau taugt sie als Demonstrationsobjekt für die städtebauliche und architektonische Haltung des Architekten Peter Märkli. Denn das konstruktiv aufwändige, tatsächlich sehr schöne Detail, das eine Curtain Wall in eine aussenisolierte Fassade überleitet und die Vorhangfassade fast auf Null hinunter destilliert, überspielt die Mühen der Baurealisation. Es lässt zwei Hausseiten zusammenkommen, als wären sie Teil eines Puzzles, bei dem nur das richtige Teilchen eingesetzt werden muss, damit es aufgeht. Und das Haus ist natürlich Teil eines grösseren Organismus, der Stadt. Damit fängt die Ecke an, dort hört sie auf.
Über Eck verzahnte Fassaden
Das neue Wohn und Geschäftshaus in Zürich steht an der Ecke eines Strassengevierts, dessen Mitte zum grossen Teil vom massigen Körper des Schulhaus Hohlstrasse besetzt ist. Nur auf einer Seite Richtung Hellmutstrasse wird es von einer Hauszeile abgeschlossen. Im Südwesten, auf der gegenüberliegenden Strassenseite, befindet sich ein öffentlicher Park, die Bäckeranlage. Zu den anliegenden Strassen zeigt das Haus zwei Schauseiten, zur Schule eine Hofseite und zum angrenzenden Haus eine Brandmauer. Der Strassenraum sei der öffentliche und auch der beständige städtische Raum, und diese Tatsache gälte es mit architektonischen Mitteln zu stärken, meint Peter Märkli. Im 19. Jhdt. sei das ein normales Vorgehen gewesen, für einen simplen Wohnungsbau hätte niemand diese Konventionen zugunsten einer individuellen Sonderlösung in Frage gestellt. Das klingt schematischer, als der Bau daher kommt, denn skulpturale Wirkung und städtebauliche Absicht stehen in einem Gleichgewicht, da die Seite zur Schule auch eine Sicht- und keine Rück-, wohl aber eine Hofseite ist. Diese pointierte Interpretation der Situation lässt bei genauerem Hinsehen auch Fragen offen, ob der Schulhof eine Erweiterung des Strassenraums oder ein geschlossener Garten ist. Dies hat einen interessanten Bruch in den Ansichten des Gebäudes zur Folge, das durch die Ausnahme des Schulgevierts nur halb in die Blockstruktur gezwängt ist. Denn gerade an der engeren Stelle zur Hellmutstrasse wird eine vereinfachte Schauseite geboten, während die Seite zur Schule, die schon von viel weiter her sichtbar wird, als Nebenseite ausgebildet wird. Die Übereckansicht Pausenplatz – Hohlstrasse ist daher sehr präsent und entsprechend inszeniert: das Fensterband der aufwändigeren Schaufassade wird um zwei Fensterflügel um die Ecke gezogen und verzahnt sich mit der aussen isolierten, dunkelrot verputzten und ziemlich geschlossenen Fassade.
Die Hoffassade ist nicht in einem direkten Übersetzungsschritt nur einfacher als die Strassenfassaden, sondern komplett anders gebaut: An der Ecke verschmelzen mit der vorgehängten Fassade und der massiven, aussen isolierten Seite komplementäre Bau- und Sichtweisen zu einer zweideutigen Harmonie. Während in der Schaufront mit einem Bandfenster die Horizontale betont wird, wurden zum Schulhof hin Lochfenster zu senkrechten Feldern gebündelt; auch dieser Gegensatz wird in der Ecke architektonisch zusammengebracht. Mit der dunkelroten Farbe setzen die Architekten einen Akzent, der dem Haus auch auf den Nebenseiten Aufmerksamkeit garantiert und die starke Wertung der Ausrichtung unterwandert – wären die beiden Seitenfassaden etwa mit demselben Kellenwurf wie die Brüstungsbänder der Vorderseiten verputzt worden, gäbe es visuell keineswegs eine so interessante Ecksituation.
Ebenso wie mit den Fassaden bemühten sich die Architekten, mit der im Erdgeschossnutzung, einer zu den Strassen komplett verglasten Osteria, den öffentlichen städtischen Ort mitzuprägen. Und auch der Baukörper ist zur Hohlstrasse und zum Park hin präsent – die gesamte Gebäudemasse wird zu dieser Seite hin zu einem kleinen Hochhaus aufgetürmt. Die Überhöhe erreichen die Architekten durch grosszügige Geschosshöhen sowie die spektakuläre, ganz an den vorderen Rand des Gebäudes geschoben Wohnhalle der Attikawohnung. In der Perspektive von der Strasse her erzeugen die Fassadenproportionen zusammen mit den vielen Vertikalen der Fensterflügel und Geländer den fast unwirklichen Effekt des Verzuges wie bei übertrieben geschifteten Fotos und erinnern an expressionistische Stadtvisionen der 1920er-Jahren.
Innenraumdramaturgie
Im Gebäudeinnern wird der strukturelle Wechsel der beiden Fassadenarten in eine dramaturgische Steigerung umgesetzt: Die Innenwelt des Hauses beginnt im Dunklen, dem in Sichtbeton gebauten Treppenhaus. Die billigst geschalte Beton ist in mehreren Schichten klar lackiert. Dadurch wirken die Mauern viel dunkler und erzeugen mit der schrundigen Oberfläche den Eindruck extremer Masse; zusätzlich reflektieren sie das eindringende diffuse Licht. Die grossen Wohnungen betritt man aus dem dunklen Bauch des Gebäudes und muss erst um Garderobe und Bad gehen, um nach dem kurzen, breiten Korridor durch die 16 Meter breite Fensterfront zur Bäckeranlage ins Helle zu blicken. Entlang dieses Fensterbandes entwickelt sich der grossartige Wohnraum als Herzstück der Wohnung, eine Sequenz von Küche, Balkon, Wohnraum und Erkerzimmer. Er ist jedoch nicht einfach zu möblieren, denn in dieser Raumfolge bleiben nicht viele ruhige Zonen übrig. Dabei sind auch die drei Stützen, welche die Fassade von ihrer Traglast befreien, manchmal im Weg; so gross ist dieser Raum eben doch nicht. Eine zur Hellmutstrasse liegende, rückwärtige Ausbuchtung des Rundgangs um den zentralen Kern kann mit zwei Türen geschlossen werden, und zum Schulhof hin befinden sich zwei intimere Zimmer. Es gehe darum, meinen die Architekten, der Wohnung eine innere Geografie zu geben, die ein Angebot an verschiedenen Ausrichtungen und Stimmungen sowie Differenzierungen zwischen öffentlich und privat beinhalte, ohne Vorgaben für die Art der Nutzung zu machen. So sind die vier separaten Räume etwa gleich gross, ohne deswegen auf dem gleichen Grundriss zu basieren. Als sechstes Zimmer kann zumindest an sonnigen Tagen der halb eingezogene Balkon gelten, der mit einer hohen Betonbrüstung zum Park einen geschützten Raum bildet. Die grossen Wohnungen mit ihren Abstufungen von intim bis repräsentativ, hell zu dunkel und weit bis geschlossen sowie den ausgedehnten Wegen lehnen sich in moderner Form ans Modell der Bürgerwohnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts an. Diese räumlichen Prinzipien sind auch auf die Kleinwohnung angewendet. Dabei leidet die Küche unter dem reduzierten Platz; sie ist dem Wohnraum angegliedert und schafft keinen gelungenen Übergang zur Fassade, weshalb sie irgendwie nachträglich hinein gestellt wirkt und nicht ganz zum durchdachten Rest passt.
Die ausgeprägte Atmosphäre, die Raum, Material und Farben innen und aussen erzeugen, erinnert an Stimmungen in Südeuropa, wo in den Innenräumen oft harte, kühle Materialen – im Gegensatz zur häufigen Verwendung von „warmen“ Baustoffen wie Holz oder Teppichen in unseren Breitengraden – verwendet werden. Viele der verwendeten architektonischen Motive, Details oder Materialkombinationen werden zur Erfüllung ganz spezifischer Bedürfnisse eingesetzt und haben in Märklis Werk eine Vorgeschichte. Das beginnt bei der besprochenen Ecke und geht über die Art der Türzargen oder den Einbau der Lifttür bis zur Form der Vorhangschiene. Das verblüffende daran ist, dass die vielen Themen so abgestimmt sind, dass man den Bau als Ganzes wahrnimmt, ohne dass die Einzelheiten zu laut werden, und dass die Wohnungen sehr einladend sind, auch wenn diese oder jene Ecke sperrig wirken mag. Dieses Durchdeklinieren von grundlegenden architektonischen Elementen wie Türen, Fenster, Brüstungen, Treppen und Geländern gekoppelt mit einem jahrelangen Studium der Proportionen hat vielleicht im besten Fall dazu geführt, dass hier einer sehr sicher ans Werk gehen und gleichzeitig Neuland betreten kann.
Bauträgerschaft: Stiftung PWG für preisgünstigen Wohn- und Gewerberaum der Stadt Zürich
Architektur: Peter Märkli, Architekt, Zürich und Gody Kühnis, Architekt, Trübbach
Projektleitung: Valentin Loewensberg
Tragwerksplanung: Walt + Galmarini AG, Zürich
Haustechnik: Gruenberg & Partner AG, Zürich
Generalunternehmer: Karl Steiner AG, Zürich
Abgabe Studienauftrag: Nov. 2001
Bauzeit: Sept. 2004 – Sept. 2005
Text © Barbara Wiskemann