• projekte
neon-bureau
  • projekte

Text © Barbara Wiskemann | image source: www.wbw.ch

Text © Barbara Wiskemann | image source: www.wbw.ch

Werk, Bauen + Wohnen 5/2012

Lichtspagat
Wohnüberbauung Viehmarktareal in Lenzburg von Lüscher Bucher Theiler + Hans Lauber Architekten

Wohnungsbau scheint in den 10er-Jahren des 21. Jahrhunderts kompakt sein zu müssen, um alle energetischen Vorschriften einzuhalten und gleichzeitig wirtschaftlich zu sein. Das hier präsentierte Beispiel formuliert eine Gegenthese.

Am besten beginnt man die Besichtigung der Wohnüberbauung Viehmarktareal auf dem Schloss Lenzburg – immerhin eine der ältesten und bedeutendsten Höhenburgen der Schweiz, der Spaziergang hinauf lohnt sich allemal. Und von da oben wird man den silbernen «Drachen» am Fusse des Schlosshügels in seiner ganzen Grösse gewahr und vermag sein ausuferndes Volumen zu studieren: Den Kopf zur Altstadt hin gerichtet, die Zunge schlapp am Boden liegend, ein langer, gestaffelter Rumpf und zehn Extremitäten, der Rücken standesgemäss mit Zacken geschmückt. Nach Augenschein und Abstieg wieder unten angekommen, betritt man das Areal über einen dreieckigen Vorplatz mit Bäumen und Brunnen, der eine angemessene, in Lenzburg immer wieder anzutreffende, Öffentlichkeit schafft.
Der Gebäudeorganismus und auch die 44 Wohnungen sind bestimmt durch das Konzept möglichst vielfältiger und präzise gewählter Beziehungen zum Aussenraum. Jede Wohnung hat einen dreiseitig ausgerichteten Wohnraum, Öffnungen nach vier Seiten sowie Aussenräume nach Ost und West. Zudem sticht im Südosten der Blick auf das sehr präsente Schloss Lenzburg in das Auge, nach Westen hin der Staufberg und die Jurakette. Durch die genaue Ausrichtung des Baukörpers nach den Himmelsrichtungen sowie den entsprechenden Aussichten sind die beiden Längsseiten gleichwertig. Umgesetzt wird das Konzept dadurch, dass sich im langen, breiten Rumpf des «Drachens» die Zimmer und die Nasszellen befinden, während sich in den Gliedern jeweils Kochen, Essen und Wohnen abspielt. Der Querbezug wird immer über die ganze Breite des Rumpfs gesucht, der Wohnraum ist über einen Korridor sowie eine Nische oder ein Zimmer mit der entgegengesetzten Fassade verbunden. Mit wechselnden Zimmerzahlen und Ausrichtungen werden in den beiden Normalgeschossen fünf verschiedene Grundrisse erzeugt. Das 3. Obergeschoss und das Erdgeschoss sowie der Kopfbau bieten jeweils zusätzliche Varianten.

Aufregende Klammer
Der Wettbewerb wurde 2005 von der Besitzerin des Grundstücks, der Ortsbürgergemeinde Lenzburg, offen ausgeschrieben. Die meisten Teilnehmer reichten entweder einen langen, hohen Riegel oder eher würfelförmige Häuser ein. Die Architekten Lüscher Bucher Theiler und Hans Lauber aus Luzern gingen freier mit den Anforderungen um und entwickelten einen spezifischen Typus, der mit der Ausrichtung kombiniert so neu und spannend ist. Das feingliedrige Volumen ist Resultat der Verteilung der geforderten Ausnützung von 1.0, das oberste Geschoss ist rechtlich keine Attika, Minergieanforderungen waren keine gestellt. Der Gebäudekörper mit seinen ausgestreckten Gliedern schafft kleinteilige Räume, die sich der spannungsarmen Frontalbeziehung zwischen banalen Wohnriegeln, wie sie die nächste Umgebung bestimmen, entzieht. Dies wirkt sich aussen wie innen aus. Die Grösse des Baukörpers, die an dem Ort einzigartig ist, wird dadurch gebrochen, und es entsteht eine mit der Umgebung vergleichbare Körnigkeit. Dass die Erdgeschosswohnungen zur Strasse nicht sichtbar sind, schafft eine verträgliche Distanz – vor allem da die Wohnungen im Parterre gleichfalls beidseitig ausgerichtet sind wie oben. Im Kopf des «Drachens», der am Anfang des linearen Gebäudes einen wirklichen Auftakt zur Stadt macht, sind Wohnungen der Genossenschaft «wohnen im alter-nativ» untergebracht. Die Wohnungen sind weitaus konventioneller, was mit der veränderten Situation am Gebäudekopf zu tun hat. Imposant sind das schöne Treppenhaus zum Vorplatz und der Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss zum Garten. Dass am öffentlichsten Ort das einzige Mal eine einsichtige Wohnung im Erdgeschoss ist, sogar mit einer Loggia an der Ecke, ist schade, da das leidige Thema der stark den Einblicken ausgesetzten Erdgeschosswohnung wie sie heute allzu oft produziert wird, ansonsten konsequent vermieden wird.

Über ein innenliegendes Treppenhaus mit diffuser Ober- oder Seitenbelichtung, betritt man die Wohnung und erlebt – gewissermassen einen Spagat des Lichts! Man steht in einer «Lichtkanone» von West nach Ost. Die Dramatik dieses Auftakts ist erstaunlich, was mit den Proportionen der Raumfolge Eingang-Korridor-Wohnraum zu tun hat, die teilweise bis zu 20 Meter lang und beim Eingang etwa 1.60m breit ist und somit in den längsten Wohnungen ein Verhältnis von über 1:10 erreicht. Quer zu dieser ziemlich aufregenden Klammer befindet sich der konventionelle Zimmertrakt mit Zimmern zu beiden Seiten und Nasszellen an der Fassade.
Die strassenseitigen Loggien am einen Ende dieses Querbezugs sind immer auf einer Seite geschlossen, meistens auf jener parallel zum Gebäuderumpf. Diese Massnahme schafft zur Strasse eine angenehme Distanz. Zudem wollten die Architekten dadurch das direkte Gegenüber zu den angrenzenden Wohnbauten vermeiden. Seitlich schweift der Blick dann in die Tiefe Richtung Seetal oder Schloss Lenzburg. Auf der grünen Westseite wurde diese Regel weniger streng ausgelegt, und ein Teil der Loggien hat eine Seitenwand, was den Vorteil einer offenen Ecke und der grösseren Rundsicht hat. Auf der Ostseite ist in der vordersten Loggia eine Klappe eingebaut, so dass ein «Fenster» aufgemacht werden kann. Es sieht so aus, als wären die Architekten sich nicht ganz sicher gewesen, ob das System durchwegs so funktioniert. Die Balkone am anderen Ende des durchgesteckten Raumes – der Aussenraum in die entgegengesetzte Himmelsrichtung – ist etwas arg in die Ecke zum benachbarten Wohnzimmertrakt geklebt, was sich sowohl volumetrisch als auch für die Nutzung auch so anfühlt. Neben der frei schwebenden Loggia vor dem Wohnraum wirkt dies wie ein unnötiger Putzbalkon; die Sicht und die Ausrichtung sind auch ohne den Balkon vorhanden.
Die langen, dreiseitig belichteten Wohnräume wirken wie Kanzeln, die vom breiten Rumpf her auskragen. Das ist sehr schön gelungen, man scheint sich als Bewohner in seinem eigenen Reich, abgekoppelt vom grossen Haus zu befinden. Die Setzung der Fenster ist etwas unentschieden, da für den Esstisch, dort für den Wohnbereich, und am Ende die raumhohe Verglasung zur Loggia, die wie der Höhepunkt wirkt, aber den Blick auf die Loggiawand zur Strasse freigibt und etwas enttäuschend ist. Da die Loggia die Blicke zur Seite dreht, wäre wohl der Fokus zu den Seiten auch im Wohnzimmer schöner.

Gewichtsfragen
Wenn bei Wohnungsbauten heute oft Fassadengestaltung, Oberflächen oder Balkongeländer wichtig sind, um gleichförmige Würfelvolumetrien zu proportionieren und zu unterscheiden, ist in diesem Beispiel die Fassade, also das Gesicht des Hauses, im Vergleich zum Baukörper einfach gehalten. Sie ist durchgehend gleich materialisiert und umgesetzt und hält so das ausufernde Volumen zusammen. Die silbern gestrichenen Horizontal-Latten betonen farblich das Drachenhafte und bilden eine angenehme, bewegte Oberfläche. Vor den Nasszellen, die alle an der Fassade liegen, sind die Lättli mit Auslassungen durchgezogen, was das Innere völlig ausreichend belichtet und zugleich vor Einsicht schützt. Von Aussen sind dann nicht mehr Öffnungen erkennbar, man denkt an Lüftungsschlitze. Und dass der schwere Baukörper bis in das Erdgeschoss hölzern sein muss, scheint etwas indifferent: etwa weil dann der offene Lattenverschlag des Velohäuschens zur Strasse fast gleich wie die Hausfassade auf den Boden trifft – zu wenig leicht im einen Fall, zu wenig schwer im anderen. Bei den westseitigen Loggien sieht es seltsam aus, wenn eine einzelne «Holzscheibe» aus dem grünen Terrain wächst. Die ostseitigen Loggien kragen dagegen über den Eingängen aus, was sie zu zeichenhaften Elementen werden lässt, die der Strassenfront gut tun. Dass im Erdgeschoss zur Strasse die Wohnungen nicht einsehbar sind, ist gut gelöst, wenngleich erst die Zeit die Nutzbarkeit der Vorhöfe vor den Erdgeschosswohnungen beweisen wird. Im Sinne einer Beziehung zwischen Gebäude und öffentlichem Raum wäre eine «sprechendere» Fassade auf der Fussgängerebene vielleicht städtischer.
Das einfache Aussenraumkonzept ist einleuchtend. Während an der Martha-Ringier-Strasse das verbreiterte Trottoir bis an das Gebäude geführt ist und mit einzelnen Bäumen und Bänken als öffentlicher Ort gekennzeichnet ist, befindet sich auf der Westseite ein durchgehender Grünraum. Zu hoffen ist, dass die Bewohnerschaft ihren gemeinsamen Aussenraum noch etwas in Beschlag nehmen werden wird. Die vier durch das Volumen gebildeten Buchten sind alle gleichermassen mit Felsenbirnen, die etwa etagenhoch werden sollen, bepflanzt, sodass der Raum etwas weniger offen und doch nicht zu schattig wird. Ein Kiesrechteck besetzt jeweils die Mitte, zweimal ein Sandkasten, zweimal eine Schaukel. Diese Massnahmen wirken uninspiriert und könnten thematischer auf die vier Zonen verteilt werden.
Das Gebäude von Lüscher Bucher Theiler und Hans Lauber hat einen hohen Wohnwert und bietet Wohnungsbau, der in seiner Grundanlage nicht konventionell ist. Den Architekten ist auf dem Viehmarktareal die Erfindung eines speziellen Wohnungstyps gelungen, der vielfältige Räume schafft – auch wenn sich im Einzelnen viele etwas vage oder unentschiedene Massnahmen findet. Zu hoffen bleibt, dass sich immer wieder Nischen finden, wo sich gegen die heutigen Marktkonventionen solche Typen und Volumetrien testen lassen.

neon bureau ag | dipl. architektinnen ETH BSA SIA | am wasser 55, 8049 zürich | +41 44 240 18 68 | welcome@neon-bureau.ch